© 2004 – Hauskreisarbeit der Evang. Landeskirche, Württ.
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Perspektiven Nr. 35
Hauskreise - ein starkes Stück Zukunft - Teil 1
( die Teile II und III finden Sie im Downladbereich von www.hauskreise-in-wuerttemberg.de
)
Ein Vortrag auf dem Evang. Kirchentag von Pfr. Hans-Hermann
Pompe
1. Kirche in einer orientierungslosen Gesellschaft
1.1. Die ratlose Kirche
Wer noch nicht gemerkt hat, dass wir in den Kirchen Europas in einer tiefen
Krise stecken, der hat in den letzten 20 Jahren den Kopf in den Sand gesteckt.
Der Kirchenkreis Wuppertal-Barmen verliert jedes Jahr Mitglieder in Zahl einer
Pfarrstelle. Und maximal die Hälfte davon sind Wegzüge an den Stadtrand, die
den Gemeinden im Umfeld zugute kommen oder Überalterung. Die anderen verlassen
eine Kirche, die für sie keine Bedeutung mehr zu haben scheint. In
Ostdeutschland gibt es Städte und Dörfer, da sind weniger als 10% der
Bevölkerung überhaupt noch Kirchenmitglieder. Wohlgemerkt: Ich rede nicht vom
Gottesdienst-Besuch, sondern von der Gesamtzahl aller Mitglieder aller
christlichen Gemeinden vor Ort.
Das hat verschiedene Ursachen. Für die Gesellschaft sind zwei Faktoren wichtig:
Wir haben als Kirche schlicht an Glaubwürdigkeit und Bedeutung verloren.
Menschen verlassen z.B. die Evangelische Kirche, weil sie sich über den Papst
ärgern - und der Unterschied ist ihnen gar nicht mehr wichtig. Sie haben über
Jahre und Jahrzehnte eine Kirche erlebt, die ihr Geld nimmt, ohne für ihr Leben
auch nur annähernd lebensverändernde Bedeutung zu entwickeln.
Und wir haben einen Verlust an Erwartung. Die Kirchen haben z.B. in den letzten
Jahren investiert in die seelsorgerliche Kompetenz. Aber mit seelischen
Problemen gehen die Menschen heute gar nicht mehr zum Pastor - sie denken gar nicht
mehr an Seelsorge. Sie gehen zum Psychologen oder sie buchen an der VHS ein
esoterisches Seminar für viel Geld. Dieser Vertrauensverlust ist viel
tiefgehender als der Mitgliedschaftsverlust: Viele Menschen erwarten gar nichts
mehr von den Christen und Christinnen. Sie vertrauen inzwischen anderen
Instanzen und Werten. Sie kennen das gar nicht mehr, was sie ablehnen oder
verwerfen.
Und sie haben ja oft genug recht. Was würden sie denn in einer
durchschnittlichen Gemeinde hören, wenn sie sich sonntagmorgens hineinwagen?
Wen würden sie denn treffen, wenn sie in einen durchschnittlichen Gottesdienst
kämen? Wie würden sie denn aufgenommen und empfangen? Sie träfen auf eine
zutiefst verunsicherte und ratlose Gemeinde. Sie ahnt, dass ihr Angebot nicht
mehr gefragt ist - aber sie hat eine neue, im Evangelium verankerte Identität
noch nicht gefunden. Und sie hat den Weg durch die Wüste oft noch gar nicht
betreten, der sie zu einer Oase für Durstige machen würde. Viele Gemeinden
unserer Großkirchen und auch Kirchenveranstaltungen sind eher Spiegelbild einer
rat- und rastlosen Gesellschaft als Alternative und Oase.
1.2. Die rastlose Gesellschaft
Ich las eine faszinierende Analyse unserer Mediengesellschaft von dem
Medienwissenschaftler D. Klenk. Die Gesellschaft der Einsamen und
Beziehungslosen wird von einer Sinnindustrie überrollt. Sie bietet Unterhaltung
gegen Langeweile, Unsinn gegen Sinnlosigkeit und Pseudobeziehung gegen
Beziehungslosigkeit (Klenk 70). Das weitaus verbreitetste Angebot dieser
Sinn-Industrie ist das Fernsehen: es steht in fast jedem Wohnzimmer. Sein
kaltes Bildfeuer wärmt nicht, aber es verbrennt unsere kostbare Lebenszeit.
Klenk sagt: Das Fernsehen wirkt wie eine Plombe für unser Beziehungsloch: Es
füllt die Defizite - aber es ersetzt gelebtes Leben durch Pseudoleben. Die
Medienkonzerne profitieren davon, weil höhere Einschaltzeiten mehr Kunden für
die bedeuten, die Fernsehen durch Werbung finanzieren.
Wir sind die Menschen der Erlebnisgesellschaft, so hat der Bamberger Soziologe
G. Schulze uns charakterisiert: Das Leben schlechthin ist zum Erlebnisprojekt
geworden. Die modernen Glückssucher sagen: ich will alles und zwar sofort.
Manche Jugendlichen in unserer Gemeinde haben Angst irgendetwas zuzusagen: Sie
könnten ja in der Zeit etwas anderes verpassen. Typisch sind diejenigen, die
Samstagabend und -nachts drei Feten besuchen, weil sie sich für keine richtig
entscheiden konnten. Möglicherweise zappen ihre Eltern inzwischen durch viele
Programme am Fernsehen hin und her, weil sie das Leben nicht verpassen wollen.
Der katholische Theologe P.M. Zulehner beschäftigt sich seit langem mit dem
Umbruch in der europäischen Gesellschaft. Er sagt (Leibhaftig 15ff): Jeder
Mensch wird irgendwo nach Antwort suchen auf drei tiefe Sehnsüchte, drei
Urwünsche. Der Wunsch nach Anerkennung und Zuwendung - Zulehner nennt das den
Wunsch nach Namen. Dann der Wunsch nach Freiheit und Wachstum bzw. nach Macht.
Und der Wunsch nach Heimat, also nach Verwurzelung und Besitz.
Wo werden diese Urwünsche beantwortet und erfüllt? Von einer Kirche, die ihre
Identität erst wiederfinden muss? Der die Menschen eine sinnvolle Antwort
mehrheitlich gar nicht mehr zutrauen? Zulehner verschärft seine Analyse noch,
denn diese Urwünsche sind in ihrer Bewegung maßlos. Sie bringen uns die schmerzliche
Erfahrung, dass es für alle Wünsche nur endliche, vorläufige Erfüllung gibt.
Eine Gesellschaft auf der Suche nach Glück, die von Blume zu Blume fliegt, ohne
je satt zu werden, trifft auf eine verunsicherte Kirche. Eine ungute
Kombination. Wer soll hier wem antworten?
2. Signale für die Zukunft - Erfahrungen der ersten Gemeinden
Ich möchte vier Schlaglichter aus den ersten Jahrzehnten der Christenheit
aufleuchten lassen, die uns einen anderen Weg aufzeigen. Aus einer Zeit, als
die Gemeinde kleine Gruppen waren, die sich in Häusern oder gemieteten Räumen
trafen. Als das Evangelium wie Salz auf eine fade gewordene Gesellschaft traf
und begann, sie zu verändern.
2.1. Mobilität der Liebe
Sie waren ein erstaunliches Ehepaar. Als Christen aus Rom nach Korinth
vertrieben, dort den Missionar Paulus kennen gelernt, zu Gastgeber und
Unterstützer für ihn geworden; mit ihm nach Ephesus weitergezogen, um dort die
kleine Gemeinde mit zu leiten. Als Paulus nach Rom schreibt, sind sie bereits
wieder dorthin zurückgezogen und auch dort für eine Hausgemeinde
verantwortlich. Ein letzter Gruß erreicht sie im zweiten Timotheusbrief - wo
immer sie sich auch aufgehalten haben mögen.
Mobilität der Liebe, so könnte man die Wege von Priska und Aquila beschreiben:
vier Wohnorte in sieben bekannten Jahren - und alle irgendwie mit der
Verbreitung des Evangeliums verknüpft. Und immer auch Gastgeber einer kleinen
Gemeinde in ihrem Haus, einer Art Hauskreis. Salz der Erde - die „für andere
ihr Leben aufs Spiel gesetzt haben", bezeugt Paulus ihnen (Römer 16,4).
Christsein durfte etwas kosten - damals.
2.2. Attraktive Gottesdienste
Ob die lokale Öffentlichkeit viel wahrnahm von dem kleinen Gottesdienst in
Korinth im Haus des Gaius, kann man bezweifeln. Aber durch die Briefe des Paulus
wissen wir, wie zerrissen es innerhalb einer der neuen Gemeinden aussehen
konnte: Alle Schichten waren zusammen, Sklaven und Hafenarbeiter wie Chloe
neben dem Synagogenvorsteher Krispus oder dem städtischen Finanzchef Erastus.
Zu der sozialen Spannung kamen Streitigkeiten über Auferstehung oder Gaben, es
gab Rangstreit und Neid.
Und trotzdem muss der Gottesdienst dieser kleinen Gruppe so faszinierend und
attraktiv gewesen sein, dass interessierte Neugierige in diesen Gottesdienst
kamen, um mehr von Gottes Liebe zu erfahren. Paulus geht jedenfalls davon aus,
dass in dieser zerrissenen Gemeinde Menschen durch das Erleben konkreter
Prophetie zur Gottesbegegnung kommen und Christen werden können (!. Kor.
14,24f). Gottesdienst war attraktiv - damals.
2.3. Familie Gottes
Viele der ersten Christen und Christinnen wurden durch ihren Glauben aus ihren
Familien herausgerissen. Das muss ein schmerzhafter Prozess gewesen sein; in
Jesu Anlehnung durch seine Familie und den Worten über die neue Familie Gottes
spiegelt sich etwas davon (Mk 3, 20f. 31-35).
Aber die neue Beziehung zum Vater im Himmel überbietet alte Beziehungen, und
das Neue Testament ist an vielen Stellen durchzogen von der Intensität dieser
Liebe. Ob Paulus die Erstbegegnung mit den Thessalonichern als gegenseitig
geteiltes Leben beschreibt (1. Thess. 2,8), ob er sich nach er unbekannten
Gemeinde der Römer (Rm 1,11) oder die Mutter des Rufus auch für ihn wie eine
Mutter war (Rm 16,13) - es liegt ein Zauber der neuen Liebe über den
Begegnungen der ersten Christen und Christinnen. Gemeinde war wie eine offene
Familie - damals.
2.4. Befreite Beziehungen
Normalerweise hätten sie nie am gleichen Tisch gesessen. Philemon war reich,
hatte Sklaven, Onesimus war Sklave. Römisches Recht war eindeutig: Sklaven
waren rechtloses Privateigentum, ohne dieses Drittel der Bevölkerung wären die
Landgüter der Senatoren und die Wirtschaft Roms zusammengebrochen. Weglaufen
bedeutete für Sklaven Lebensgefahr.
Der entlaufene Sklave Onesimus rettet sich zu Paulus, wird dort Christ - und
von Paulus zu seinem Herrn zurückgeschickt. Aber nun als Bruder, als Mitglied
der Gemeinde im Haus des Philemon und unter der Bitte, ihn für Paulus
freizugeben. Ein völlig unübliches Verhalten, das widerspiegelt, wie das
Evangelium von innen her Strukturen der Unfreiheit überwindet. Gemeinden haben
befreite Beziehungen durch die Jesus-Begegnung widergespiegelt - damals.
2.5. Eine interessante Minderheit
Vieles ist vergleichbar zwischen der römisch-griechischen Gesellschaft und
unserer heutigen: Ein religiöses Supermarkt-Angebot, wo es zwischen Myterien,
Esoterik, Philosophie, alten und neuen Religionen alles gibt; starke soziale
Spannungen, wo Reiche auf Kosten der Armen bzw. der Norden auf Kosten des
Südens lebt; zerbrechende Familienstrukturen mit schwindender sozialer Kraft;
Genuss-Sucht und Erlebenisorientierung für die, die es sich leisten konnten; -
wie haben die neutestamentlichen Gemeinden innerhalb weniger Jahrzehnte von
einer unbeachteten östlichen jüdischen Sekte zu einer zunehmend die
Gesellschaft beeinflussende Kraft werden können? Sie waren eine kleine
Minderheit - aber eine Interesse weckende.
Der katholische Neutestamentler T. Söding sagt (17f): Ihr Lebensstil hebt sich
deutlich von dem der heidnischen Umgebung ab, und sie stoßen damit auf Neugier,
bisweilen auf Zustimmung aber auch auf Befremdung oder Ablehnung. Weil sie in
ihrer vertrauten Umgebung bleiben, ist für Außenstehende die Änderung ihres
Glaubens an der Änderung ihres Lebensstils deutlich wahrnehmbar, z.B.: an der Ablehnung
des Götterglaubens, der Verweigerung des offiziellen (Staats)kults, der
Ablehnung der Prostitution, der strengen Monogamie (Einehe), vor allem an dem
intensiven Gemeinschaftsleben. Ich konzentriere mich auf einen Aspekt, der für
heutige Hauskreise der entscheidende ist: Sie haben als Minderheit die
Verheißung der kleinen Zahl genutzt.