© 2004 – Hauskreisarbeit der Evang. Landeskirche, Württ.

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Perspektiven Nr. 43
Christen aus Russland in unseren Hauskreisen

Seit vielen Jahren kommen russlanddeutsche Aussiedler/innen und Spätaussiedler/innen nach Deutschland. Viele von ihnen kommen zu uns nach Baden-Württemberg. (Im Bundesvertriebenen- und Flüchtlingsgesetz ist die Quote von 12,3% aller Aussiedler/innen festgelegt). Etwa 50% von ihnen geben bei der Einreise an, sie seien evangelisch. So sind in den Bereich der Evangelischen Landeskirche in Württemberg allein in den 10 Jahren 1989 bis 1999 etwa 150 000 neue Gemeindeglieder zugezogen.

Aussiedler/innen als evangelische Gemeindeglieder
In vielen Kirchengemeinden nimmt man die russland -deutschen Aussiedler als treue Gottesdienstbesucher wahr. Das sind dann meist ältere Frauen, die leicht an ihren Kopftüchern zu erkennen sind. Die mittlere Generation allerdings und die jungen Menschen finden in aller Regel nicht von alleine den Weg zu uns, zu fremd ist ihnen alles. Sie haben vom Evangelium fast nichts oder gar nichts gehört, einen Religionsunterricht haben sie nie gehabt, Gottesdienste sind ihnen fremd, und ein Gemeindeleben, wie bei uns, durfte es in der ganzen kommunistischen Zeit überhaupt nicht geben.
Es hat mehr mit ihren Ordnungsvorstellungen zu tun, dass sie "evangelisch" als Konfession angeben. Sie waren der Meinung, in Deutschland gehöre man eben zu einer Kirche.
Als sie 1941 wegen Hitlers Krieg zu Staatsfeinden erklärt und verschleppt wurden, da kam zur religiösen Verfolgung der Kommunisten nach 1917 die politische Verfolgung wegen ihrer Volkszugehörigkeit hinzu.
Diese bitteren Jahre 1941 bis 1955 (Ende der Kommandantur, d.h. Ende ihrer Gefangenschaft in den Sondersiedlungen) haben viele nur durchgestanden, weil sie sich an Gottes Wort geklammert haben und in aller Heimlichkeit zusammen kamen, um miteinander zu beten, Glaubenslieder zu singen und sich gegenseitig im Glauben zu stärken.
Nach Aufhebung der Kommandantur im Dezember 1955 durften sie ihren Wohnort wieder frei wählen, aber sie durften nicht mehr zurückkehren in ihre ursprünglichen Herkunftsgebiete, d.h. das europäische Russland blieb ihnen verschlossen.
Damals erwachte in vielen der Wunsch oder sogar die Sehnsucht, zurückzukehren in die Urheimat, zurückzukehren nach Deutschland.
Die Möglichkeit dazu bot sich jedoch in größerem Umfang erst in der Ära, also erst nach 1985.

In einem Rundbrief des Propstes der Evangelisch Lutherischen Kirche in Kaliningrad/Königsberg las ich vor einiger Zeit den Satz: "Unsere christlichen Gemeindeglieder sind die einzige Bibel, die die Menschen hier lesen!"
Ähnlich könnte man es auch formulieren für die Seelsorge an Aussiedlerinnen und Aussiedlern:
Wie begegnen wir Einheimischen den Aussiedler/innen? Wie erleben sie an uns, was uns die Botschaft der Bibel, was Gott für uns bedeutet? Kann man an uns etwas ablesen von Gottes Liebe zu uns Menschen?
Haben wir offene Türen und Herzen für Neuzugezogene? Freuen wir uns über die Menschen, die zu uns kommen? Erwarten wir etwas von ihnen, von den Gaben und Begabungen, die sie mitbringen, von ihrer Sichtweise, ihren Fragen, ihren Vorschlägen und Anregungen? Laden wir sie ein, teilzunehmen und teilzugeben?


Ein idealer Ort für eine solche Annäherung könnten die Hauskreise sein.
Offiziellen Institutionen bringen Aussiedler/innen oft ein tief sitzendes Misstrauen entgegen. Sie machen außerdem die Erfahrung, dass unsere Welt ihnen viel fremder ist, als sie erwartet hatten.
Der innere Druck ist groß, nur ja alles richtig zu machen, und sie werden dabei doch das Gefühl nicht los, das meiste sei falsch.
Im Hauskreis ist das alles viel leichter zu überbrücken und abzufedern.
Die Einladung ist meistens persönlich, die Teilnehmerzahl ist überschaubar, das Wohnzimmer ist ein privater Raum, mit hoher Wahrscheinlichkeit ist man von jemandem abgeholt worden und hat dadurch fast automatisch auch einen "Paten", eine "Patin" zur Seite.

Nicht nur die neu hinzukommenden Aussiedler/innen stecken voller Fragen.
Es ist hilfreich, wenn wir von Anfang an davon ausgehen, dass wir tatsächlich aus verschiedenen Welten kommen. Je besser wir Bescheid wissen um die Unterschiede, und je selbstverständlicher wir das ansprechen, desto leichter gelingt der Brückenschlag.
Einige Beispiele:
Der Zeitbegriff ist bei uns ein anderer. "Beginn 20 Uhr", das wird bei uns ziemlich exakt eingehalten, wir kommen in der Regel weder eine halbe Stunde zu früh, noch eine Stunde zu spät. Solche exakten Zeitangaben sind aber für viele Russlanddeutsche etwas neues. Hier ist das "Abholen" eine gute Einstiegs- und Eingewöhnungshilfe.
Die Schuhe werden in den Herkunftsländern selbstverständlich ausgezogen, ehe man eine Wohnung betritt. Am besten: "das Thema ansprechen". Behalte ich nämlich die Schuhe einfach nur stillschweigend an, wie die anderen, habe ich von meiner Erziehung her dennoch das Gefühl, mich ungebührlich zu verhalten, ziehe ich sie aber aus, so bin ich mal wieder diejenige, die es "falsch" gemacht hat.
"Die reden alle, muss ich auch?" Unsere Art miteinander zu sprechen, sich auszutauschen, unterschiedliche Gedanken zu äußern, womöglich verschiedene Meinungen nebeneinander stehen zu lassen, das ist zunächst verwirrend, das sind viele nicht gewohnt. Andererseits sind sie dazu erzogen, zu tun, was auch die anderen tun. Sie geraten dadurch leicht unter Druck. Der kann von ihnen genommen werden, wenn man ihnen ausdrücklich sagt, sie dürften sich genau so verhalten, wie ihnen zu Mute ist, sie dürften mitreden, dürften Fragen stellen (es gibt keine dummen Fragen!) dürften aber auch in aller Ruhe einfach zuhörend sich beteiligen.
"Die lesen gar nicht immer in der Bibel!" Sind das wirklich Christen? Über manche ethischen Fragen sind "die hier sogar" unterschiedlicher Meinung. Die Tochter der einen Familie kam noch eben herein und hatte tatsächlich Jeans und ein nabelfreies Top an. Darf man seine Kinder so herum laufen lassen? Eine Frau - oder mehrere Frauen - im Hauskreis ist/sind sorgfältig geschminkt, darf man das? (Diese Fragen können je nach Herkunft der Russlanddeutschen zu einem befreiten Aufatmen führen oder zu einem ängstlichen inneren Zurückzucken.) Was bedeutet das eigentlich: "Christ sein?"
"Die bleiben zum Beten einfach sitzen!" Das ist verwirrend für die einen, für die Frommen. "Wo bleibt die Ehrfurcht gegenüber Gott?"
Für die anderen erhebt sich eher die Frage: "Was geschieht eigentlich beim Beten? Hört da wirklich jemand zu? Wie soll man sich, wie kann man sich das vorstellen?"
"Warum redet niemand von Bekehrung?"
Aussiedler/innen, die drüben zu den Gemeinden der überkommenen Tradition gehörten, bringen die Erfahrung mit, dass man erst nach erfolgter - oft öffentlicher - Bekehrung wirklich zur Gemeinde gehört.
Wie prägt unser Glaube unseren Lebensalltag? Das ist die beide Gruppen verbindende Frage.
Wenn nur die Sprachkenntnisse besser wären!
Die fehlenden Sprachkenntnisse sind tatsächlich das größte Integrationshindernis. Sprechen lernt man am besten beim Sprechen. Hier kommt uns Einheimischen eine wichtige Aufgabe zu. Es ist wichtig, dass wir sie ansprechen, dass wir mit ihnen reden, dass wir interessiert Fragen an sie stellen und Geduld aufbringen beim Zuhören.
Für Aussiedler/innen, die durch den Deutschkurs Vorkenntnisse mitbringen kann die Teilnahme an einem Hauskreis ganz nebenbei eine wichtige Ergänzung zum Deutschunterricht sein und auch die Motivation steigern, die Sprachkenntnisse zu verbessern und zu erweitern.

Miteinander reden als Hilfe zur Integration
Für Aussiedler/innen mit ganz geringen oder kaum vorhandenen Kenntnissen könnte es ein hilfreiches Angebot sein, wenn jemand sich bereit findet, für einige Zeit - vielleicht einmal wöchentlich - eine Stunde lang Kommunikation auf Deutsch anzubieten. Das sollte kein "Sprachkurs" sein mit festgelegten Unterrichtszielen, mit Grammatikübungen und dergleichen.
Wichtig ist die Erfahrung, dass beim anbietenden Gesprächspartner ein Interesse besteht, vom anderen etwas zu erfahren, sich miteinander auszutauschen. Fotos, Bilder sind ein guter Anknüpfungspunkt, Informationen über den neuen Wohnort, Erlebnisse aus der alten Heimat. Das wird manchmal mit ein paar wenigen Worten beginnen, mit Wörterbuch und vielleicht mit der Hilfe eines Reisesprachführers, aber es wird Mut machen, Neugier wecken, Interesse entstehen lassen und sich als sehr effektiv erweisen.
Durch die dabei entstehende Vertrautheit, wird sogar eine zunächst noch fast "stumme und taube" Teilnahme am Hauskreis nicht mehr als ein Ausgeschlossensein erlebt werden, sondern als ein Weg des Hineinfindens und Heimischwerdens.

"Die Erwartungen an eine persönliche Beziehung werden mir zu groß".
Das kann leicht geschehen. Aussiedler/innen haben in der Regel mehr Zeit. Sie sind oft längere Zeit arbeitslos und bringen auch andere Erfahrungen mit, was das Zusammenleben betrifft. Sie können oft nicht von selbst erkennen, dass die Nähe innerhalb des Hauskreises nicht gekoppelt ist mit einer Alltagsnähe.
Das kann zu einem Gefühl der Überbeanspruchung führen bei uns Einheimischen und zu einer Enttäuschung oder gar einem Verletztsein auf der Seite der Aussiedler/innen. Es ist gut, wenn man um diese Gefahr weiß, dann kann man sie rechtzeitig ansprechen. Es geht dann nicht um "richtig" oder "falsch", sondern einfach um die unterschiedlichen Gegebenheiten, um die vielerlei Anforderungen, die hier bei uns unser Lebensalltag an uns stellt, und um die Begrenztheit der Ressourcen an Kraft und an Zeit.

Heimat finden in unseren Kirchengemeinden!
Die Hauskreise könnten dabei ein wichtiger Begleiter sein. Dabei würden die Hauskreisteilnehmerinnen und -teilnehmer sehr wahrscheinlich die Erfahrung machen, dass diese Aufgabe nicht nur Kräfte kostet und Fantasie und Geduld beansprucht, sondern dass sie auch Kräfte zuführt, den Horizont erweitert und sich als neue Lebendigkeit auswirkt.
Geben und nehmen, schenken und beschenkt werden geschieht gegenseitig.
"Ich will dich segnen, und du sollst ein Segen sein!" Diese Verheißung an Abraham wird auch zur Verheißung und zum Geschenk an uns.

Die Autorin Irmgard Jeschawitz war viele Jahre vom Evang. Gemeindedienst in Stuttgart aus zuständig für die Belange der Russland-Deutschen. - Sie ist gewiss bereit, Hauskreisen entsprechende Hilfestellung zu geben - darum hier:
Fax: 07 11/2 20 66 63
E-mail: jeschawitz.irmgard@t-online.de