© 2004 – Hauskreisarbeit der Evang. Landeskirche, Württ.

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Bibel aktuell, Nr. 80
Aufgewacht! - Hier bin ich!
(Jes 51,1-52,6)

"Wer den Offenbarungsglauben, der an der Bibel entsteht, für Opium hält, wird hier eines Besseren belehrt.
Es geht nicht um Einschläferung, sondern um Erweckung."

(Hans Brandenburg)

Was man nicht gleich versteht


Stichwort: Gerechtigkeit (51,1)
Der im Deutschen mit "Gerechtigkeit" wiedergegebene Begriff hat im Hebräischen eine viel größere Bedeutungsbreite. Gerechtigkeit bedeutet hier wie immer in Jesaja 40-55 das von Gott gewirkte Heil, seine heilschaffende Macht, sein helfendes Eingreifen (vgl. Jes. 41,10). Von Gott her bedeutet Gerechtigkeit also, dass er treu und verlässlich ist (vgl. Ps. 7,18; 22,32; 111, 3; Dan. 9,16), seine Zusagen einlöst (vgl. Ri. 5,11; Jes. 41,10; 45,8; 51,6). Daraus ergibt sich als Gabe Frieden, Wohlstand, Glück und Segen (vgl. Ps. 48,11; Jes 48,18; 61,11; Hos 10,12).
Vom Volk Gottes her bedeutet Gerechtigkeit als Antwort auf Gottes Gerechtigkeit, auf ihn und seine Weisung zu hören (vgl. 5. Mose 9,4; Jes 1,21) sowie das Gute und Rechte zu tun (vgl. Hi 35,8; Hes 3,20). Gerechtes Leben ist gelungenes Leben, heilvolle Beziehung zwischen Gott und Mensch sowie der Menschen untereinander.

Stichwort: Rahab (51,9)
Rahab (vgl. Hi 9.13; 26,12 Ps 89,11) ist der Name für das mythische Seeungeheuer als Inbegriff der widergöttlichen Chaosmacht. Es wird auf Ägypten als den Feind des Gottesvolkes übertragen (vgl. Ps 87,4; Jes 30,7). Damit nicht zu verwechseln ist eine Dirne namens Rahab in Jericho, die mit ihrer Familie bei der Eroberung der Stadt geschont wurde (vgl. Jos 2; 6,22-25).

Stichwort: Zion (51,11)
Zion ist der ursprüngliche Name der von David eroberten Jebusiterfestung, die dann Davidsstadt genannt wurde (vgl. 2.Sam 5, 6-9). Später ging der Name auf den Tempelberg über und wurde schließlich zur Bezeichnung für ganz Jerusalem und seine Bewohner. In der Kreuzfahrerzeit wurde der Name irrtümlicherweise auf den Westhügel der Stadt übertragen. Der Zion gilt v.a. in den Psalmen als Gottessitz und Gottesberg, als Mittelpunkt der Welt, an dem sich himmlische und irdische Welt berühren (vgl. Ps 14,7; 48). In der prophetischen Veründigung wird der Zion zu einem Motiv der Heilshoffnung Israels und der Welt, das dann auch in die christliche Überlieferung eingeht (vgl. Hebr 12,22; Offb 14,1).

Stichwort: Herr Zebaoth (51,15)
Zebaoth ist ein hebräisches Wort, das "Heere", "Heerscharen" beeutet und im Alten Testament wie auch hier in Jesaja 51,15 oft als Bestandteil einer Gottesbezeichnung erscheint. Diese Bezeichnung ist ursprünglich in der Bundeslade, dem sichtbaren Ausdruck für Gegenwart des unsichtbaren Gottes bei seinem Volk, verbunden und wird im Zusammenhang kriegerischer Situationen gebraucht (vg. 1. Sam 4,4; 15,2f; 17,45; Ps 24,7-10), so dass bei "Zebaoth" an die "Heerscharen Israels" gedacht ist.
Doch weit öfter kommt die Bezeichnung in den Prophetenbüchern vor und verkündet hier den Gott Israels als den Herrn der Himmelsheere, d.h. der Engel oder des Sternenheeres, in welchem man in Israels Umwelt göttliche Mächte verehrte. Die Bezeichnung bekommt hier den Sinn: Herr aller Mächte und Gewalten.

Was der Text wollte

Gottes ewiges Heil (51,1-8)
Die Sehnsucht nach Gerechtigkeit und die Suche nach Gott ist nicht vergeblich. Gott spricht die an, die ihn suchen. Er lässt sie nicht ohne Antwort. In der ausweglos scheinenden Situation der Zerstörung und Verschleppung wiederholt Gott noch einmal die Schöpfungstat, die im Anfang der Geschichte seines Volkes stand.
Wie sich in der Befreiung aus Babylonien die Rettung aus der ägyptischen Sklaverei spiegelt (vgl. Jes 43,16-21), so soll sich der Abrahamssegen durch den Israel zum großen Volk wurde (vgl. 1. Mose 12, 1-3; Sara 17,15f) in der Gegenwart noch einmal auswirken.
Wenn es heißt, Gott tröstet die Trümmer Jerusalems, dann bedeutet das, sie sollen wieder aufgebaut werden. Was noch Wüste ist, soll zum Garten Eden werden (vgl. 1. Mose 2,8f). Klagegesänge sollen in Lob und Jubel verwandelt werden (vgl. Ps 30,12).
Dazu aber ist es notwendig, genau aufzumerken und zuzuhören ("Habt acht! Merkt auf!"). Gott wird eine umfassende Friedensordnung aufrichten und dem Unrecht ein Ende machen (vgl. 42,1-4). Gott wird Gerechtigkeit und Heil im umfassenden Sinn geben (vgl. Jer 31,33; Hes 36,27).

Das Recht Gottes wird nicht nur Israel, sondern auch den Völkern als Licht leuchten. Alle, die sich ihm zuwenden, werden an diesem Heil teilhaben (vgl. 45,22-24) und so dem allgemeinen Untergang entgehen. Denn Gottes neumachendes Heil kommt nicht ohne reinigendes Gericht. Denn ohne dass Gottes Recht über alles Unrecht siegt, gibt es kein Heil und keine Neuschöpfung. Himmel und Erde werden vergehen, aber Gottes Heil bleibt (vgl. Mt 24,35).
Schon jetzt gibt es in Israel Menschen, die Gottes Gesetz im Herzen tragen und deswegen unter Spott und Hohn leiden (vgl. Mt 5,11). Gott fordert sie dazu auf, sich davon nicht beeindrucken zu lassen. Denn Gott behält das letzte Wort. Zu guter Letzt bleibt sein Reich des Friedens.

Gottes dreimaliger Weckruf (51,9 - 52,6)
Jesaja 51, 9-16: Dreimal erklingt das Signal zum Aufwachen (V.9.17; 52,1). Der erste Weckruf (V.9-16) besteht darin, dass die eben Angeredeten als Antwort Gott energisch im Gebet anrufen. Sie kennen Gottes Kraft aus der Geschichte der Rettung ihres Volkes. Sie weisen auf Gottes Schöpfungswerk hin, das als Kampf gegen den Chaosdrachen (Rahab) gesehen wird, und auf die Rettung der aus Ägypten Befreiten (Erlösten) am Schilfmeer (vgl. 2. Mose 14,21f). Damit bestürmen sie ihren Gott, damit er noch einmal seine Macht sichtbar werden lässt.
Die Antwort Gottes folgt von Vers 12 ab. In Vers 11 wird sie in einem Wort des Propheten vorweggenommen (vgl. Jes 35,10). Gottes Volk darf mit ihm rechnen. So wie aus Ägypten wird es auch aus Babylonien Erlöste geben, die zum Zion heimkehren. Gott wird den Seinen Hilfe schaffen. Sie haben keinen Grund, an der Macht ihres Gottes zu zweifeln und vor Angst zu vergehen.

Die Angst ist ein Kennzeichen dieser Welt (vgl. Joh 16,33). Die Mächtigen der damaligen Zeit - und wie ist es heute? - brauchen den Terror, um ihre Macht ausüben zu können.
Das Kennzeichen des Reiches Gottes aber ist die Macht der Liebe, die keine Angst macht, sondern Furcht nimmt, wie es in Jesaja 40-55 immer nue erklingt: "Fürchte dich nicht!" Die Stunde der Befreiung kommt. Der in den Stock gekrümmte Gefangene findet seine Freiheit. Damit ist hier niht nur ein einzelner, sondern Israel gemeint. Diese Hoffnung gründet sich allein auf Gott, der seiner Verheißung treu bleibt: "Du bist mein Volk." Der ganze Abschnitt gipfelt in dieser Zusage des Herrn Zebaoth (V. 16).

Jesaja 51, 17-23: Glaube bedeutet nicht Einschläferung, sondern Erweckung. Das Volk ist durch den Schmerz über den Untergang Jerusalems und die Verschleppung so betäubt wie ein Betrunkener. Jetzt ist es Zeit, aufzuwachen. Dazu dient auch die aufrüttelnde Sprache. Das Bild vom Zornwein erinnert an den Vorgang, dass man einen Gegner betrunken macht, um ihn auszuschalten oder zu töten (vgl. 2. Sam 13,28; Jer 25,15ff; Hab 2,15f).
Diesen Wein wird Gott nun an die Gegner seines Volkes weiterreichen. Durch ihre Sünde hat er die Sünde seines Volkes bestraft. Aber nun werden auch die, die als Werkzeug des göttlichen Gerichts gedient haben, zur Rechenschaft gezogen. Dieses Richten dient letztlich dazu, das Reich Gottes aufzurichten, wie zu Beginn des Kapitels entfaltet wurde (51,1-8) und im nächsten Kapitel weitergeführt wird.

Jesaja 52, 1-6: Das Ende der schläfrigen Kraftlosigkeit ist gekommen. Noch einmal, wie in Kapitel 51,9.17, wird Jerusalem aufgerufen, die Mutlosigkeit abzuschütteln wie den Schlaf. Die Zeit der Gefangenschaft ist vorbei. Die fremden Unterdrücker haben in Gottes Stadt nichts mehr zu sagen. Gott hat sein Volk als Sklaven verkauft, aber er hat dafür kein Entgelt bekommen. Darum zahlt er de Unterdrückern auch nichts, wenn er jetzt sein Volk befreit. Es muss also nicht befürchten, selbst ein Lösegeld aufbringen zu müssen. Nicht eigener Besitz und eigene Opfer bahnen den Weg in die Freiheit, sondern Gott allein.
Dabei ist es nicht das erste Mal, dass Israel in Sklaverei und Bedrückung kam. Nach der Knechtschaft in Ägypten und Assur muss Gottes Volk nun zum dritten Mal unterdrückt in der Fremde leben.
Gott identifiziert sich hier mit seinem Volk, als sei er selbst in Babylon gefangen. Sein Name wird geschmäht, weil der Anschein entsteht, als sei er den Göttern der Feinde unterlegen. Aber es kommt der Tag, an dem er seine Macht erweisen und das Volk erkennen wird, dass Gott seine Zusagen einlöst. Dafür bürgt er mit seinem Namen (vgl. 2. Mose 3,14): "Hier bin ich!"

Was der Text heute bewirken kann

Loslassen
Gott führt sein Volk zu neuen Ufern. Auf diesem Weg ist es notwendig, Altes loszulassen, was niederdrückt, schläfrig und kraftlos macht. Dieses Loslassen ist eine Kunst. Und ein Geschenk. Nicht aus eigener, sondern nur aus göttlicher Kraft ist es möglich, wider den Augenschein zu glauben und auf den zu vertrauen, der verspricht: "Hier bin ich!" Christen in Schottland haben eine Liturgie entwickelt, die für Zeiten der Traurigkeit und des Loslassens gedacht ist.
Als Kostprobe einen Auszug davon (aus: Sinfonia Oecumenica, hg.v. B. Aebi u.a., Gütersloh 1998, S. 528ff):
"Ich lasse los die Verletzungen der Vergangenheit und strecke mich der Zukunftshoffnung entgegen.
Ich lasse los, zugleich wissend, dass ein Teil meiner Vergangenheit für immer hineingewoben bleibt in die Geschichte meines Lebens.
Hilf mir, Christus, allen Kummer und alle Traurigkeit in mir behutsam aufzunehmen und vorwärts zu gehen, jeden Tag in deiner Begleitung anzunehmen, und jeden Schritt in deiner Liebe zu tun.
Du mitziehender und begleitender Gott, unsere Schuhe sind gefüllt mit Steinen, unsere Füße haben Blasen und Wunden, unsere Gesichter sind gezeichnet von Tränen. Wenn wir stolpern und fallen, lass uns deine Gegenwart spüren inmitten unserer Wunden und unserer Tränen und in der Heilung und dem befreienden Lachen auf unserem Lebensweg."

Sehnsucht nach Gerechtigkeit
Gott sei Dank leben viele Menschen in unserer Gesellschaft - zumal im Vergleich mit anderen Ländern - im Wohlstand. Wo Licht ist, ist allerdings auch Schatten. Die Schattenseite des Wohlstands nicht weniger Christen ist, die Sehnsucht nach gelingendem Leben für alle zu verlieren. Mit anderen Worten: Die Sehnsucht nach dem Kommen des Reiches Gottes - "Dein Reich komme!" (Mt. 6,10).

Müssen es immer erst Katastrophen wie etwa der schreckliche Kosovo-Krieg sein, die aus der Schläfrigkeit und Selbstzufriedenheit aufwecken? Ich denke, es ist immer wieder neu angesagt, Gott um diese Sehnsucht nach Frieden zu bitten, die Jesus seliggepriesen hat (Mt 5,6): "Selig sind, die da hungert und dürstet nach Gerechtigkeit. Denn sie sollen satt werden."

Aufmerksamkeit
Wie heilsam ist es, in Gesprächen Menschen zu begegnen, die aufmerksam zuhören. Wo ich nicht das Gefühl habe, mein Gegenüber wartet nur darauf, endlich selbst zu Wort zu kommen und mir von sich zu erzählen oder mir eine fertige Antwort auf mein Anliegen zu präsentieren. Wie das Loslassen ist auch das aufmerksame Zuhören eine Gabe, an der ich allerdings auch arbeiten kann, die ich einüben kann. So verhält es sich auch mit dem aufmerksamen Hören auf Gott (vgl. Jes 51,4). Dazu ist es nicht zuletzt notwendig, in die Stille zu gehen, auf die leisen Töne Gottes hören zu lernen und ihn anzubeten. Mit den Worten von Gerhard Tersteegen:

"Ich bete an die Macht der Liebe, die sich in Jesu offenbart;
ich geb mich hin dem freien Triebe, mit dem ich Wurm geliebet ward;
ich will, anstatt an mich zu denken, ins Meer der Liebe mich versenken."

Als einen Zugang zu dieser Macht der Liebe sieht Tersteegen das Herzensgebet (vgl. Jes 51,7: "Du Volk, in dessen Herz mein Gesetz ist"). Es ist eine Form regelmäßig wiederholter Gebetsrufe. Dazu kann das Wort aus Joh. 20,28 dienen: "Mein Herr und mein Gott!" Es kann mit der Anrufung des Jesusnamens verbunden sein.
Am deutlichsten empfiehlt Tersteegen das Gethsemanewort aus Lk 22,42: "Nicht mein Wille, sondern dein Wille geschehe!" Sich diese Worte immer wieder bewusst zu machen, nennt Tersteegen auch "Liebesblick". Wie Liebende sich durch kurze Erinnerungen an den Geliebten ihre Tage verzaubern lassen, so können auch die Stillen durch diese "Liebesblicke" ihr ganzes Tun in einem anderen Licht sehen.
In dieser Form von Stille als Ruhigwerden vor Gott liegt eine große Kraft der Klärung, die Klarheit schafft und stark macht (vgl. Jes 30,15): "Durch Stillesein und Hoffen würdet ihr stark sein." Wo nicht ich etwas schaffe, sondern der, der mich geschaffen und erlöst hat, zu mir spricht und mir den Weg in die Freiheit weist, auch wenn mir meine Lage noch ausweglos erscheint. H. v. Redern hat diese Erfahrung so in gesungenes Wort gefasst:

"Weiß ich den Weg auch nicht, du weißt ihn wohl.
Das macht die Seele still und friedevoll.
Ist's doch umsonst, dass ich mich sorgend müh',
dass ängstlich schlägt mein Herz, sei's spät, sei's früh."


Thomas Popp