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Bibel aktuell, Nr. 79
Endzeitstimmung zur Jahrtausendwende?
Die Verbannung in Babylonien
müsste den Juden als das Ende ihrer Geschichte erscheinen. Anscheinend war die
Endzeit über sie hereingebrochen.
Auch unsere Zeit wird von manchen als Endzeit gedeutet, sei es im Blick auf die
zunehmende Zerstörung der Umwelt oder angesichts der Jahrtausendwende, die
anzudeuten scheint, dass eine große Zeit zu Ende geht.
Leben wir in der Enzeit?
Und was bedeutet die Rede von der Endzeit für den Glauben an den
lebenschaffenden, barmherzigen Gott?
Endzeitbilder damals
Im Jahre 1536 begann der über sechzigjährige Michelangelo in der Sixtinischen
Kapelle in Rom sei großes Wandgemälde "Das Jüngste Gericht". Wer im
Besucherstrom heute die Kapelle betritt, steht zunächst verwirrt vor dem
unruhigen Bild mit der Fülle seiner Farben und Figuren. Bald erkennt man:
Christus tritt in der Mitte des oberen Teils des Bildes hervor. Er scheint im
Begriff, sein Reich aufzurichten.
Der Menge auf der rechten Seite gilt die Aufmerksamkeit des wiederkommenden
Christus. Nur eine wegwerfende, verachtende Geste hat er für die Gruppe auf der
linken Seite des Bildes. Qual und Entsetzen stehen ihnen auf dem Gesicht
geschrieben. Charon, der Fährmann der Toten aus dem griechischen Mythos,
entfernt sein gedrängt volles Boot aus dem Bereich des göttlichen Heils.
Die Komposition der mittelalterlichen Bilder, die wilden
Fratzen der Teufel oder die Eleganz der himmlischen Gestalten am Westportal der
Kathedrale können wir bewundern, über die Farben und die ruhelosen Bewegungen
in Michelangelos Fresko in Rom staunen. Aber wie nah, oder besser: wie fern,
ist unserem Lebensgefühl diese Apokalyptik, ein Jüngstes Gericht mit Christus
als kommendem Weltenrichter?
Endzeitstimmung heute
Die Vorstellung von einem universalen letzen Gericht bestimmt auch zur
Jahrtausendwende kaum den Alltag. Fern ist die Überzeugung, dass diese Zeit nur
ein Vorspiel der Ewigkeit sei und wir vor einem anderen Rechenschaft ablegen
müssen über unser Tun und Lassen. Die Macht traditioneller christlicher
Jenseitsbilder ist geschwunden. Das Urteil über unser Leben sprechen wir
selber. Man schämt sich darum eher bei dem Blick in den Spiegel oder vor den
Blicken der anderen, als dass man das Angesicht des kommenden Christus
erwartet, sehnsüchtig oder ängstlich, wie es die Menschen im Mittelalter taten.
Die Lebensgeschichte selber, erreichter Erfolg und erlittene Kränkung, wird so
als Lebensgericht erlebt und gewertet. Auf der anderen Seite kommt jedoch die
vergessene Vorstellung von einem endgültigen Gericht in veränderter Gestalt als
Idee von der Weltgeschichte als Weltgericht durch die Hintertür wieder herein.
"Die Lust an der Apokalypse nimmt zu, je näher die magische
Jahrtausendwende rückt." (Zeitmanagement, Dezember 1995). Auch in
ernsthafterem Ton hört man die Meinung, dass die Jahrtausendwende nicht nur
Anlass für Events und Expos, sondern auch für die Endzeitstimmung sei. Menschen
sind in der Tat fasziniert von der Suggestionskraft runder Zahlen. Countdown zur
Jahrtausendwende - die Uhr am Eifelturm in Paris und auch die
"Astrowoche" zählen die Tage.
Eines der montags erscheinenden Nachrichtenmagazine
titelte im November 1996: "Am Rande des Abgrunds" und schrieb:
"Die nahe Jahrtausendwende löst Endzeitgefühle aus." Ein Ausschnitt
aus Michelangelos Bild "Das Jüngste Gericht" aus der Sixtinischen
Kapelle dient den Blattmachern als Schocker für die Titelseite. Es war nicht
der richtende Christus, der das Fresko des italienischen Malers beherrscht,
sondern einer der Verdammten, dem der Schrecken auf dem Gesicht steht.
Michael Jackson, der Popstar, zelebriert einen Earth Song, in dem er die
Zerstörung der Welt, die Vernichtung des Lebensraums durch Krieg, Hunger und
Katastrophen besingt. "The heavens are falling down", heißt es in
diesem Lied. Der Thriller eines drohenden Weltuntergangs wird vor allem in
Filmen (Deep Impact, Independance Day, Armaggedon), Videospielen und
Science-Fiktion-Romanen vermarktet. Extraterristische Wesen sind Rettung und
Ruin der Welt. Im Säkularen floriert die Apokalyptik der Katastrophe, die mit
dem Jüngsten Gericht soviel zu tun hat, wie der Weihnachtskonsum mit dem Stall
von Bethlehem.
Das endzeitliche Lebensgefühl
Hinter der Wiederkehr von Weltuntergangsstimmung steht nicht nur die Lust am
Schauer. Wir müssen genauer hinsehen. Mindestens vier Motive kann ich erkennen:
1.
Die
moderne Kultur und Zivilisation wird als sehr unsicher erlebt. Dass Zukunft
automatisch Verbesserung bringt, glauben nicht viele. Der Gedanke, was sein
wird im Jahr 2023, ist angesichts von Ozonloch, Ökokrise, Trinkwassermangel und
Weltbevölkerungswachstum eher mit Angst besetzt. Wir leben, heißt es, nach der
Prognose des Schlimmsten, aber vor dem Eintritt des Schlimmsten. An allen Ecken
drohen Enden: Vorbei mit Nationalstaat, Sozialstaat und Arbeitsgesellschaft und
nicht zuletzt mit der DM, der Metapher einer zu Ende gehenden Heilsgeschichte.
2.
Weltuntergangsbilder
entsprechen darüber hinaus in unheimlicher Weise unserem Gefühl von Zeit. Die
immer kürzer werdenden Verfallszeiten von Wissen, Gebrauchsgegenständen und
menschlichen Beziehungen lassen "Gegenwart" immer mehr schrumpfen.
Dass die mittlere Generation die Gegenstände ihrer Kindheit nun schon in Museen
nicht ohne Nostalgie betrachten kann, zeigt sinnenfällig, wie die Gegenwart
immer rascher ihre Produkte als Vergangenheit ausscheidet.
Die Erfahrung, dass nichts bleibt und alles veraltet, ist allgemein. Wo soviel
Untergang erlebt wird, bekommt die These, dass bald alles untergehen wird,
etwas zutiefst Plausibles - und geradezu Beruhigendes. Ist das kosmische
Endspiel doch nur die Verdichtung und Steigerung dessen, was man tagtäglich im
Kleinen so und so erlebt: Untergang.
3.
So
fremd die apokalyptischen Bilder im einzelnen scheinen mögen, so ist ihre
Leistung für das seelische Erleben nicht zu übersehen. Die Verführung des
apokalyptischen Denkens beruht auf seinem fundamentalistischem Charme, den
klaren Fronten und der Vereindeutigung des Komplizierten. Die neue Übersichtlichkeit,
die eine Weltuntergangsstimmung schafft, wird in dem Maße attraktiv, in dem
Zeitgenossen unter der Undurchschaubarkeit gesellschaftlicher und politischer
Verhältnisse so wie unter der eigenen Bedeutungslosigkeit in ihnen leiden.
Endzeitpropheten bringen die verwirrende Vielfalt der Wirklichkeit auf einen
Begriff. Widersinniges, Unsinniges und Undurchsichtiges bekommen plötzlich
einen Sinn, einen schwarzen zwar, aber der scheint manchen immer noch besser
als keiner. Man begreift die derzeitige Wiederkehr der Endzeitbilder nicht,
wenn man nicht die Sehnsucht in ihnen entdeckt, der verwirrenden Wirklichkeit
durch eine Deutung eine eindeutige Zielrichtung zu geben.
4.
Apokalyptik
kommt aus der Erfahrung des Fremdseins in der Welt und weist einen Weg aus
dieser bedrückenden Spannung. "Sekten", zu deren Wesensmerkmal die
Differenz zur sie umgebenden Kultur gehört, sind und waren darum nicht zufällig
- unabhängig von der Jahrtausendwende - in der Regel apokalyptisch
ausgerichtet.
Es ist auffällig, dass gerade diejenigen Gruppen, die in der letzten Zeit durch
Massenselbsttötungen und Tötungen eine schreckliche Berühmtheit erlangt haben,
auf ein nahendes Ende der Welt ausgerichtet waren: Die kalifornische Gruppe
"Heaven's Gate" ebenso wie die Davidianer und die Sonnentemplersekte.
Apokalyptik war dort sehr einseitig mit der Ablehnung "dieser Welt"
verbunden; man muss sich radikal von ihr zurückziehen. Die radikalste Form der
Absonderung von dieser Welt ist der Tod. Auch Christen müssen in dieser Welt nicht
ganz zu Hause sein, da sie eine "himmlische Heimat" haben. Aber
Christus ist nicht nur der Herr der kommenden, sondern auch der Herr dieser
Welt, die Schöpfung Gottes ist.
Christliche Apokalyptik
In einer Zeit, in der Endzeitstimmungen und -bilder aus mancherlei Gründen
medien- und marktfähig sind, scheint es angebracht, noch einmal neu und genau
nach dem spezifischen Endspiel und der ihm entsprechenden Lebensgestaltung zu
fragen, wie sie im Christentum in den Worten aus dem Glaubensbekenntnis angedeutet
werden: "...von dort wird er kommen, zu richten die Lebenden und die
Toten."
Das christliche Glaubensbekenntnis ist ausgesprochen
zurückhaltend, was apokalyptische Bilder betrifft. Es konzentriert sich
·
auf
eine Person
·
auf
den Hinweis auf ein bestimmtes Geschehen
·
und
ist mit einem charakteristischen Verständnis von Zeit verbunden.
In der Bibel sind die Vorstellungen von Endzeit nicht nur
wie heute mit Weltuntergangsvisionen verbunden. Endspiel bedeutet vielmehr: Gott
wird aller Ungerechtigkeit und Gewalt zum Trotz seine Schöpfung durch sein
Reich vollenden. Christliche Apokalyptik wurzelt nicht in einem Nein zur
Welt, sondern im Ja des Schöpfers zu seiner Schöpfung und seinem Geschöpf.
Wegen dieser positiven Grundhaltung kann sie auch mit einem unverzagten und
aktiven Lebensstil einhergehen. Wenn morgen die Welt untergeht, will ich noch
heute mein Apfelbäumchen pflanzen, soll Martin Luther gesagt haben. Ist diese
Sentenz wohl auch nur gut erfunden, so drückt sich darin doch christliche
Hoffnung aus, die über das eigene Ich und die eigene Generation hinausgeht.
Es gibt gerade heute zahlreiche Gruppen, die sammeln die
Bedrohungsgefühle der Menschen und bieten Methoden zu ihrer Überwindung an.
Bedrohungsszenarien geben den Überzeugungen Gewicht und machen Druck. Dabei
wird stets dasselbe Muster variiert: Du musst jetzt in der Gegenwart dies oder
jenes tun (dich unserer Gruppe anschließen, meditieren, dich in bestimmter
Weise ernähren...), um der zukünftigen Gefahr zu entgehen. Die Zukunft ist
demnach die Folge und die Frucht von Vergangenheit und Gegenwart. In der
Zukunft realisiert sich, was sich jetzt schon katastrophenförmig ankündigt oder
was jetzt schon an - vermeintlicher - Rettung getan wird. Die Zukunft ist die
Tochter der Gegenwart, sie ist hochgerechnete Vergangenheit und ohne
Überraschung.
Demgegenüber bringt christliches Zeitverständnis und besonders christliche
Endzeitvorstellung die Zukunft als Adventus, als Ankunft von Neuem zur
Erfahrung. Die Zeit vergeht nicht nur, sie kommt, wie es dem Grundsinn des
Wortes Zukunft entspricht, mit etwas Neuem auf uns zu. Gottes Zukunft erfüllt
nicht das in der Gegenwart so und so schon Angelegte, sondern seine Verheißung,
wie sie in Texten des Alten Bundes und besonders schön in Offenbarung 21
ausgedrückt ist.
Im Blick auf die Endzeit leben
Diese Glaubensüberzeugung hat zwei lebenspraktische, das Handeln humanisierende
Konsequenzen.
1.
Der
Glaube an den zukünftigen Richter hilft dabei, Rachebedürfnisse nicht unmittelbar
zu befriedigen, sondern mit ihnen produktiv umzugehen und sie zu sublimieren.
Conrad Ferdinand Meyer hat in seiner Ballade "Die Füße im Feuer"
eindrücklich geschildert, wie die biblische Überzeugung, dass Rache Gottes
Sache ist, die Kette wechselseitiger Gewalt unterbricht. Weil Christus der
Richter über die Lebenden und die Toten sein wird, werden Handlungszwänge
durchbrochen. Alternativen tun sich auf. Zeit zum Miteinander wird eröffnet und
Frieden gestiftet.
2.
Weil
das Drama der unmittelbar erlebten Geschichte gerade kein Endspiel ist, in dem
alles auf dem Spiel steht, wird Zeitdruck genommen. Das grelle Licht und das
finstere Dunkel der Weltgeschichte bekommt den ruhingen Glanz der Dämmerung
eines noch ausstehenden Tages. Der Verlauf der Weltgeschichte ist nicht das
Weltgericht. Hitler und Stalin haben nicht das letzte Wort. Das Weltgericht
rückt zurecht, was die Weltgeschichte rücksichtslos in Unordnung gebracht hat.
Durch Weltgeschichte oder Weltgeschichten Bedrängte
bekommen durch den Glauben an das Weltgericht den notwendigen Atem zum Leben.
In dieser Welt gibt es schreckliche Tragödien und spaßige oder heitere
Komödien, aber keine Endspiele, auch wenn die eigene Angst oder die Mächtigen
solche immer wieder inszenieren und einem verängstigten Publikum einreden
wollen, dass alles auf dem Spiel steht.
Das Bekenntnis zu Christus als dem Richter entlastet
davon, in der Weltgeschichte schon das Weltgericht sehen zu müssen. Der Sinn
der Weltgeschichte enthüllt sich uns jetzt noch nicht. Wie in einer Dämmerung
ist er noch verborgen bis zum Jüngsten Tag. Der katholische Dichter Joseph von
Eichendorff hat dies in einem Gedicht einmal mit einem anderen Bild
ausgedrückt: "Und keiner kennt den letzten Akt von allen, die da spielen,
nur der da droben schlägt den Takt, weiß wo das hin mag zielen."
Gewiss: Wir werden nach unserem Tun gerichtet. Aber diese
Aussicht soll uns die Barmherzigkeit Gottes suchen und in Christus entdecken
lassen. Wenn das Glaubensbekenntnis Christus als das geheime Sinnzentrum der
verwirrenden Weltgeschichte bekennt, so hat dieser Christus keine anderen Züge
als die des Jesus von Nazareth. Er rief die Mühseligen und Beladenen zu sich,
pries die Friedfertigen, Verfolgten und Leidtragenden selig, die, die hungern
und dürsten nach Gerechtigkeit.
Der Weltenrichter ist kein anderer als der, der selbst am Kreuz gerichtet, ja
hingerichtet wurde. Weil er der Verurteilte ist, verbindet sich mit seinem
Namen darum unauslöschlich die Hoffnung, dass sein Gericht nicht allein
vergebender Freispruch sein wird, sondern ein für allemal aufrichtet,
zurechtrückt und wiederfindet, was verloren war.
Wie der Text im Hauskreis lebendig wird
·
Leben
wir in der Endzeit? Was meinen Mitglieder Ihrer Gruppe dazu? Wie begründen sie
ihre Einschätzung?
Die Vorstellung, dass die Welt auf ein Ende und auf das Weltgericht zugeht,
o
macht
mir Angst
o
lässt
mich gelassen
o
weckt
Freude in mir
o
Wenn
ich ganz sicher wäre, dass das Weltende bevorsteht, würde ich ganz anders
leben.
o
Wenn
ich ganz sicher wäre, dass das Weltende bevorsteht, würde ich auch nicht anders
leben.
·
Welche
dieser Äußerungen trifft für Sie zu? Warum können Sie so denken und empfinden?
Vergleichen Sie Einstellungen der verschiedenen Gruppenmitglieder.
1.
"Wenn
Jesus Christus wiederkommt, wird er diese böse Welt vernichten und eine bessere
Welt schaffen. Darum lohnt es sich nicht, sich für diese Welt
einzusetzen."
2.
"Das
Weltgericht rückt zurecht, was die Weltgeschichte rücksichtslos in Unordnung
gebracht hat. Der Weltenrichter ist der Weltenretter. Sich als Christ für diese
Welt einzusetzen heißt darum, Zeichen der Hoffnung, Zeichen des kommenden
Gottesreiches aufzurichten."
·
Welchem
dieser beiden Sätze können Sie eher zustimmen?
·
Wele
Aussagen in diesem Aufsatz passen nicht zu ihren bisherigen Vorstellungen von
Endzeit und Endgericht? Wie gehen Sie damit nun um?
·
Auch
in den Kapiteln 46 bis 49 des Jesajabuches wird Gericht angekündigt. Was
bedeutet dieses Gericht für die Heiden, für das Gottesvolk und für Israel?
Michael Nüchtern